1.6 Die Opferfalle wahrnehmen
Manchmal stecken wir in Situationen fest, die sich alternativlos anfühlen. Nicht, weil wir nicht nachdenken würden. Nicht, weil wir bequem wären. Sondern weil wir innerlich überzeugt sind: Ich habe keine Wahl.
Genau hier beginnt das, was ich Opferfalle nenne.
Die Opferfalle ist kein Charakterzug und kein Urteil. Man ist kein „Opfer“, weil man in einer Opferfalle sitzt. Sie beschreibt einen inneren Zustand: das Erleben von Machtlosigkeit und fehlendem Handlungsspielraum.
Typisch für die Opferfalle sind Gedanken wie: Ich kann da nichts ändern. Ich muss das aushalten. Es gibt keine Alternative.
Oft funktionieren wir nach außen weiter, übernehmen Verantwortung und erfüllen Pflichten. Nach innen fühlen wir uns festgefahren, erschöpft oder innerlich leer. Die Opferfalle entsteht nicht aus Schwäche, sondern häufig aus Überforderung, Angst, Verantwortung oder realen äußeren Zwängen.
An dieser Stelle ist mir eine klare Unterscheidung wichtig.
Es gibt Menschen, die wirklich Opfer geworden sind – von Gewalt, Missbrauch, Übergriffen oder Verbrechen. Hier geht es um reales Unrecht, das von außen geschehen ist. Diese Menschen tragen keine Verantwortung für das, was ihnen widerfahren ist. Das darf niemals relativiert oder psychologisiert werden.
Die Opferfalle, von der hier die Rede ist, ist etwas anderes. Sie beschreibt kein Opfersein, sondern ein inneres Erleben von Alternativlosigkeit. Wer beides kennt, weiß: Es fühlt sich nicht gleich an.
Diese Unterscheidung ist wichtig, damit Bewusstheit nicht zu Schuldumkehr wird und Leid nicht verharmlost wird.
Die Opferfalle wahrzunehmen bedeutet nicht, sofort handeln zu müssen. Es bedeutet auch nicht, Lösungen parat zu haben.
Der erste Schritt ist viel schlichter – und zugleich anspruchsvoller: zu bemerken, dass ich mich machtlos fühle.
Oft beginnt das mit der ehrlichen Frage: Wie geht es mir wirklich – in dieser Situation?
Nicht: Was sollte ich tun? Nicht: Wie komme ich da raus? Sondern nur: Wie fühlt sich das gerade für mich an?
Bewusstes Wahrnehmen ist kein Problemlösen. Es ist ein Innehalten.
Ich habe selbst lange in einer Opferfalle gesessen – vor allem in meinem Berufsleben. Ich war in einem Beruf, den ich irgendwann nicht mehr wollte und auch nicht mehr konnte. Und gleichzeitig war ich überzeugt, dass es keine Alternative gibt.
Nicht, weil ich nicht gesucht hätte. Ich habe mich immer wieder gefragt, ob es andere Wege gibt. Aber unter den damaligen Bedingungen – finanzielle Verantwortung, Erschöpfung, Pflichtgefühl – erschien mir alles entweder unrealistisch oder nur ein Wechsel von einem unpassenden Job zum nächsten.
Rückblickend sehe ich: Ich blieb nicht, weil ich frei gewählt habe, sondern weil ich glaubte, keine Wahl zu haben.
Das zu erkennen war unangenehm. Aber es war der Moment, in dem ich begann, ehrlich hinzusehen – noch ohne Lösung, noch ohne nächsten Schritt.
Die Opferfalle löst sich nicht durch Druck. Und auch nicht durch gute Ratschläge.
Sie beginnt sich zu verändern, wenn wir anerkennen: So wie es sich gerade anfühlt, erlebe ich mich als alternativlos.
Dieses Hinsehen ist kein Versagen. Es ist Bewusstheit.
Und manchmal ist genau das der erste kleine Riss im inneren Stillstand – nicht mehr, aber auch nicht weniger.