Kapitel 1.12 – Grenzen wahrnehmen
Grenzen wahrzunehmen ist etwas sehr Menschliches. Und doch ist es vielen von uns im Laufe des Lebens schwergefallen. Nicht, weil wir keine Grenzen hätten, sondern weil wir uns daran gewöhnt haben, über sie hinwegzugehen. Oft ganz unbemerkt. Oft über Jahre.
Grenzen sind nichts Starres. Sie sind keine Linien, keine Regeln, keine festen Werte. Sie entstehen im Moment – im Körper, im Gefühl, im inneren Tempo. Manchmal sind sie weit, manchmal enger, manchmal verändern sie sich von einem Tag auf den anderen. Grenzen wahrzunehmen bedeutet deshalb nicht, etwas festzulegen, sondern bei sich zu bleiben und zu spüren, wie es einem gerade geht.
Es gibt Lebensphasen, in denen dieser Kontakt leiser wird. Man funktioniert. Man tut, was zu tun ist. Man geht weiter. Nicht, weil man sich bewusst dafür entscheidet, sondern weil es sich selbstverständlich anfühlt. In solchen Phasen merken viele Menschen erst spät, dass etwas zu viel geworden ist.
Für mich hat sich dieser Zustand lange Zeit angefühlt wie das Sitzen auf einem sehr schnellen Pferd. Es war ein starkes, verlässliches Pferd. Ausdauernd. Eines, das nur eines konnte: galoppieren. Und ich saß lange Zeit auf diesem Pferd. Nicht, weil ich es angetrieben hätte, sondern weil es einfach so lief. Galopp war mein Normalzustand. Ich habe das Tempo nicht hinterfragt, ich habe es nicht einmal bewusst wahrgenommen. Es war einfach da.
Irgendwann hat dieses Pferd abrupt gestoppt. Nicht langsam, nicht sanft, sondern mit einer Vollbremsung. Meine Erkrankungen haben mir keine Wahl gelassen. Lange Zeit konnte ich danach nicht mehr aufsteigen. Nicht, weil ich nicht wollte, sondern weil es nicht ging.
Heute sitze ich wieder auf diesem Pferd. Aber anders. Ich lerne gerade, wie sich Schritt anfühlt. Und Trab. Und wie viel Aufmerksamkeit es braucht, das Tempo rechtzeitig wahrzunehmen. Nicht erst dann, wenn nichts mehr geht, sondern früher. Ich lerne, dass Grenzen sich zeigen, bevor sie überschritten sind – wenn man bereit ist, hinzuspüren.
Denn Grenzen kündigen sich selten laut an. Sie zeigen sich als Müdigkeit, als innere Enge, als Unruhe oder als ein leiser Gedanke wie: Eigentlich reicht es. Wer wieder mehr in Kontakt mit sich selbst ist, kann diese Signale früher bemerken. Nicht immer. Nicht perfekt. Aber immer öfter.
Dabei geht es nicht darum, sofort etwas zu verändern. Nicht darum, besser zu funktionieren oder alles richtig zu machen. Grenzen wahrzunehmen heißt zunächst nur, hinzusehen. Allein dieses Hinsehen verändert bereits etwas, weil wieder Beziehung entsteht – zwischen dir und deinem Erleben, zwischen Tempo und Gefühl.
Nicht jede Person nimmt Grenzen auf dieselbe Weise wahr. Und nicht jede Grenze zeigt sich gleich. Manches in diesem Kapitel wird vertraut wirken, anderes vielleicht gar nicht. Beides ist in Ordnung.
Grenzen wahrzunehmen bedeutet, früher langsamer zu werden. Nicht erst stehen zu bleiben, wenn es nicht mehr geht, sondern das eigene Tempo wieder zu spüren, während man unterwegs ist. Das ist kein Ziel und kein Zustand. Es ist ein Prozess. Und er beginnt mit Wahrnehmen.