Kapitel 1.11 – Wahrnehmen, Bewerten und Widerstand

Veröffentlicht am 15. Dezember 2025 um 09:15

Kapitel 1.11 – Wahrnehmen, Bewerten und Widerstand

Wahrnehmen kann man nur das, was da ist. Und was da ist, ist nicht falsch.
Nicht im Sinn von angenehm oder unangenehm, sondern im Sinn von: Es gehört im Moment zu meinem Erleben.
Beim Wahrnehmen geht es nicht darum, etwas zu korrigieren oder in Ordnung zu bringen. Es geht darum, eine möglichst neutrale Position einzunehmen und zu sehen, was gerade da ist – ohne sofort ein Urteil darüber zu fällen.

Zwischen Wahrnehmen und Bewerten liegt oft nur ein Wimpernschlag. Kaum nehmen wir etwas wahr, ist die Bewertung schon da.
Das mag ich nicht. So sollte ich nicht fühlen. Das ist gut. Das ist schlecht.
Das ist kein Fehler. Das ist ein Automatismus.
Unser System ist darauf ausgelegt, Erlebnisse schnell einzuordnen. Bewerten hilft uns, uns im Alltag zu orientieren und Entscheidungen zu treffen.

Es gibt viele Situationen, in denen reines Bewerten völlig ausreicht.

Zum Beispiel im Alltag: Wir sehen ein Kleidungsstück im Geschäft. Ein kurzer Blick. Gefällt mir – gefällt mir nicht.
Mehr braucht es nicht. Hier wäre es lebensfremd, innezuhalten und zu erforschen, was dieses Kleidungsstück innerlich mit uns macht. Bewertung ist in solchen Momenten genau das richtige Werkzeug.

Bewusstes Leben bedeutet nicht, alles zu hinterfragen. Das wäre im realen Leben nicht umsetzbar und würde eher überfordern als helfen.

Schwierig wird es dann, wenn Bewerten das Wahrnehmen ersetzt.
Wenn wir sofort urteilen und dadurch gar nicht mehr hinschauen, was eigentlich da ist. Dann wird aus Wahrnehmen ein Abbruch. Das mag ich nicht – Ende. So sollte ich nicht fühlen – weg damit.
In solchen Momenten verhindert Bewertung, dass wir mit unserem eigenen Erleben in Kontakt kommen. 
Gleichzeitig kann Bewertung auch ein Einstieg sein.
Manchmal ist es genau das Gefühl von Das passt nicht oder Das fühlt sich gut an, das uns überhaupt erst aufmerksam macht.
In diesem Sinn kann Bewerten – ähnlich wie Kreativität – kurz aus dem Autopiloten herausholen und den Blick öffnen für das, was dahinter liegt.
Entscheidend ist nicht das Bewerten selbst, sondern was danach passiert.

Aus Bewertung entsteht oft Widerstand.
Widerstand zeigt sich zum Beispiel als inneres Wegdrücken, Anspannung, Rechtfertigung, Ablenkung oder als Kampf gegen das eigene Erleben.
Widerstand sagt: Das soll nicht da sein.
Auch Widerstand ist nichts Falsches. Er ist ein Schutzmechanismus.
Problematisch wird er nicht durch seine Existenz, sondern dann, wenn er unbemerkt bleibt. Denn auch Widerstand kann wahrgenommen werden.

Nicht jede Situation verlangt bewusstes Wahrnehmen. Nicht alles muss innerlich erforscht werden.

Bewertung ist im Alltag oft ausreichend und sinnvoll.
Bewusstes Wahrnehmen wird dort wichtig, wo wir innerlich feststecken, uns wiederholen oder uns selbst nicht mehr verstehen.

Wahrnehmen bedeutet nicht, auf alles eine Antwort zu finden.
Es bedeutet, dem eigenen Erleben Raum zu geben, ohne es sofort verändern zu müssen. Und manchmal ist genau das der entscheidende Unterschied.