Kapitel 1.2 - Was fühle ich wirklich?

Veröffentlicht am 2. Dezember 2025 um 08:59

 

 

Es gibt Phasen im Leben, in denen man innerlich längst weiß, dass etwas nicht stimmt, aber man macht trotzdem weiter. Man hält durch, weil man es gewohnt ist. Man lächelt über Müdigkeit hinweg. Man redet sich ein, dass ein Wochenende Schlaf schon reichen wird. Man schluckt Tränen runter, weil man glaubt, dass es „schon nicht so schlimm“ sein wird.

 

Und während man so tut, als wäre alles normal, sammelt sich im Inneren eine ganze Landschaft an Gefühlen an, die keinen Platz finden. Unruhe. Erschöpfung. Angst. Hoffnung. Trotz. Resignation. Und man spürt sie alle — nur nie bewusst. Immer nur am Rand.

 

Bis etwas passiert.

 

Bei manchen Menschen ist es ein leiser Moment, bei anderen ein deutlicher Einbruch. Und bei mir war es ein Moment, der mich mitten im Alltag erwischt hat: Ich bin einfach da gesessen und habe geweint. Nicht ein stilles Tränenlaufen, sondern ein Weinen, das von tief drinnen kommt. Ein Weinen, das sich anfühlt, als würde etwas in einem nachgeben, was viel zu lange unter Spannung stand.

 

Es war ein Drama — aber ein heilsames. Und ganz ehrlich: Es war notwendig.

Denn dieses Weinen hat etwas freigemacht. Alles, was ich über Monate weggeschoben hatte, durfte endlich auftauchen.

Und gleichzeitig war da ein Gefühl, das mich überrascht hat: Erleichterung.

 

Erleichterung darüber, dass ich nicht mehr so tun musste, als wäre alles in Ordnung. Erleichterung darüber, dass ich endlich aufhören konnte zu kämpfen. Erleichterung darüber, dass ich mir eingestanden habe: „Ich darf mich jetzt um mich kümmern. Ich muss nichts mehr schaffen.“

 

Das ist etwas, das viele Menschen nicht verstehen: Die ehrlichen Gefühle tauchen erst dann auf, wenn man aufhört, sich selbst auszutricksen.

Unter dem Stress liegt Erschöpfung.

Unter der Erschöpfung liegt Angst.

Unter der Angst liegt oft Traurigkeit.

Und unter all dem liegt ein Kern, der nur eines sagt: „Bitte hör mich endlich.“

Fühlen ist daher nicht nur „etwas wahrnehmen“. Fühlen ist ein Wiederkontakt mit sich selbst.

Und manchmal beginnt es mit einem einzigen Gefühl, das alles verändert: dem Gefühl, dass man so nicht weitermachen kann — und dass das völlig in Ordnung ist.

Fühlen heißt nicht: Alles analysieren. Fühlen heißt: Raum schaffen für die Wahrheit, die sowieso schon da ist.

Es ist keine Schwäche, wenn man zusammenbricht. Es ist der Moment, in dem man ehrlich wird.

Und aus dieser Ehrlichkeit wächst Klarheit. Und aus Klarheit wächst Kraft. Und aus Kraft entsteht etwas, das vorher unmöglich war: ein neuer Anfang.