Kapitel 1.8 – Gibt es wirklich keine Wahl?

Veröffentlicht am 12. Dezember 2025 um 10:17

1.8 Gibt es wirklich keine Wahl?

In der Opferfalle und im Grübeln taucht oft ein sehr mächtiger Gedanke auf: Ich habe keine Wahl.

Dieser Gedanke fühlt sich absolut an. Nicht wie eine Einschätzung, sondern wie eine Tatsache. Und genau deshalb lohnt es sich, hier innezuhalten.

Das Gefühl, keine Wahl zu haben, ist real. Es entsteht nicht aus Fantasie oder Bequemlichkeit, sondern oft aus Erschöpfung, Angst, Verantwortung oder äußeren Zwängen.

Wenn wir müde sind oder unter Druck stehen, verengt sich unser innerer Blick. Wir sehen nur noch das, was gerade ist – und nicht mehr das, was vielleicht möglich wäre.

Das bedeutet nicht, dass wir falsch denken. Es bedeutet, dass unser System gerade auf Überleben eingestellt ist.

Ein wichtiger Unterschied hilft hier weiter: Das Gefühl, keine Wahl zu haben, ist nicht automatisch gleichbedeutend mit tatsächlicher Alternativlosigkeit.

In den allermeisten Lebenssituationen gibt es Wahlmöglichkeiten – auch wenn sie unangenehm sind, auch wenn sie Zeit brauchen oder mit Verlusten verbunden wären.

Manchmal sind die Optionen nicht gut. Manchmal ist jede Möglichkeit mit Angst verknüpft. Aber das ist etwas anderes, als gar keine Wahl zu haben.

Bewusst wahrnehmen heißt hier nicht, sofort eine Entscheidung zu treffen. Sondern erst einmal ehrlich zu prüfen: Erlebe ich gerade Alternativlosigkeit – oder ist das mein inneres Empfinden?

Es wäre unehrlich zu behaupten, dass es immer echte Wahlfreiheit gibt.

Es gibt Situationen, in denen der Handlungsspielraum extrem klein ist – durch Krankheit, finanzielle Abhängigkeit, Verantwortung für andere oder äußere Umstände.

Bewusstes Leben bedeutet nicht, diese Realität zu verleugnen.

Aber auch hier kann Wahrnehmen etwas verändern: Vielleicht gibt es keine große Wahl – aber kleine Spielräume. Vielleicht nicht heute – aber perspektivisch.

Nicht als Lösung. Nur als Möglichkeit, die gesehen werden darf.

Dieses Kapitel lädt nicht dazu ein, mutige Schritte zu setzen oder radikale Entscheidungen zu treffen.

Es lädt dazu ein, den Gedanken Ich habe keine Wahl als das zu erkennen, was er ist: ein inneres Erleben.

Manchmal ist schon das Wahrnehmen dieses Gedankens der erste Moment von innerer Weite.

Nicht, weil sich sofort etwas ändert – sondern weil sich der Blick öffnet.

Reflexionsfragen:

In welchen Situationen denke ich: Ich habe keine Wahl?

Wie fühlt sich dieser Gedanke in meinem Körper an?

Ist es gerade echte Alternativlosigkeit – oder ein inneres Erleben von Enge?

Gibt es kleine Spielräume, die ich bisher nicht wahrgenommen habe?

Darf ich diesen Gedanken einfach beobachten, ohne ihn sofort aufzulösen?